Freitag, 15. Januar 2010

Momentaufnahme am Samstagabend

Stockdunkler Spätabend. Die gelangweilten bis müden Mienen der wenigen Fahrgäste spiegeln sich fade in den schmierigen, zerkratzten Fensterscheiben. Ein Samstagabend im September, 21 Uhr irgendwas in einer Regionalbahn Richtung holländische Grenze. Monoton und einschläfernd rauschen die Räder über die Schienen.

Ein verlebtes Zugabteil mit ungesunder Beleuchtung und atemberaubender Belüftung, in dem sich aufgestauter Mief aus Jahrzehnten in jede Pore der Inneneinrichtung gefressen hat. Ein Zugabteil wie tausend andere auch. Abgenutzte, von unzähligen Hinterteilen durchgesessene, verschlissene Polster. Die Farbe des Fußbodens changiert zwischen matschbraun und schleimgrün. Die Abfalleimer zugemüllt und mit diversen Ablagerungen undefinierbarer Herkunft verziert. Eine leere PET-Wasserflasche rollt auf dem Boden knirschend von einer Ecke in die andere, bis sich ein grauhaariger Rentner erbarmt und sie aufhebt. Eine zerknitterte Zeitung in russischer Sprache liegt vergessen im Gepäckhalter.

In der Sitzgruppe nebenan, schräg gegenüber, hat sich ein männliches, unschönes Individuum breit gemacht.

Seine bleiche Körpermasse belegt fast zwei Drittel der gesamten Sitzbank. Ein Secondhandmantel mit Fischgratmuster und zerrissenem Futter hängt am Garderobenhaken neben ihm am Fenster. Eine schwarze Reisetasche mit abgestoßenen Kanten findet noch schwer beengt Platz neben ihm.

Wieviel Fast-Food kann ein einzelner Mensch wohl vertragen, bis sich eine so enorme Masse auf einem Fleck ansammelt? Zuhause in seinem rostigen, verschimmelten Kühlschrank stapeln sich sicher die Hansa-Pils-Bierdosen. Zieht sich wahrscheinlich, wenn er sich auf seine speckige camelfarbene Couch, ein Erbstück der Oma, hat fallen lassen, noch sechs bis acht Liter davon rein und vegetiert dort mit leerem Blick auf die depressive Eichefurnier-Schrankwand bis zum nächsten Spätnachmittag vor sich hin. Sein Hirn kontinuierlich und konsequent über Jahre hinweg unaufhaltsam weggesoffen. Ewig verschlepptes Studium als Sozialpädagoge oder abgebrochene Lehre als Pfleger im Altenheim und danach lebenslang befristeter Aushilfsjob bei der örtlichen Drogenberatungsstelle? Ist er noch Jungfrau und masturbiert zweimal täglich oder hat er schon zahlreiche Polinnen auf seiner wackeligen 90 mal 2 Meter Bettstatt zwischen der mit diversen Körperflüssigkeiten durchtränkten, abgewetzten Bettwäsche unter sich zermalmt?

Verhornte, pilzige Füße samt dunkelgelben Fußnägeln, die Pediküre für eine sexuelle Abart halten, stecken in ehemals schwarzen, speckigen, uralten Bundeswehrstiefeln, deren rissiges Leder an manchen Stellen den Blick auf das Futter freigibt. Die fleckige, verwaschene, schwarze Hose beult an den Knien und der dicke schwarze, mit Flusen übersäte, Pullover mit dem altmodischen Zopfmuster riffelt an den Ärmeln auf.

Sind die mottenzerfressenen Klamotten vom Rot-Kreuz-LKW gefallen oder hat er den Malteser-Abfall durchwühlt? Klassischer Hartz IV-Empfänger am Rande der Konsumgesellschaft? Wie lange wird er schon arbeitslos sein? Hat er überhaupt schon einmal gearbeitet? Frißt sich bestimmt seit Jahren schon auf Steuerzahlers' Kosten durch die Gegend!

Das metallene Kassengestell, optisch galant unauffällig, dessen Flügel Druckstellen auf seiner grobporigen Nase hinterlassen, hat leicht lädiert die 80er-Jahre überlebt. Rote Flecken auf seinen Wangen und ein paar eitrige Pickel am doppelten Kinn machen die gewichtige Erscheinung nicht angenehmer. Dunkle Haare, im oberen Bereich den Blick freigebend auf die glänzende, weiße Kopfhaut, fallen ihm bis weit über die Schultern. Ungepflegt, verfilzt und am Hinterkopf sind zwei Reste Dreadlocks zu erkennen.

Eine winzige, schwarze Kappe auf dem Kopf zaubert einen Hauch „Kommune 1 – Feeling“ in sein schäbiges Äußeres, was die pelzigen Haare, die aus seinen Ohren wachsen, noch dezent unterstreichen. Seine fetten, schmalzigen Hände zerdrücken ein kleines, völlig zerfleddertes und vergilbtes Taschenbuch mit geknickten Seiten. Jedem seiner wurstartigen, weißen Finger hat er einen silbernen, fein ziselierten Ring mit schwarzem Stein aufgezwungen.

Na, wenigstens kann er lesen! Kann er oder ist es gar ein Bilderbuch?

Blick auf den Titel des Buches: „Der kleine Prinz“

….man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche bleibt für die Augen unsichtbar…

(c) Daniela Röcker 2007